Der Vortrag bezieht sich auf den 1988 erschienenen Roman 'Die letzte Welt' des österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr. Der Roman verarbeitet das historische Ereignis des Exils des lateinischen Dichters Ovid (43 v. Chr. - 17/18 n. Chr.) in Tomi (dem heutigen Constanța) aus einer postmodernen Perspektive und stellt Begriffe wie Wahrheit und Rationalität in Frage. Um seinen totgesagten Freund und Dichter im Exil zu finden und auch, um dem Druck eines repressiven Zentralstaates zu entkommen, begibt sich der Römer Cotta in dieses für die damalige Zeit und die Rom-zentrische Sichtweise ‚exotische‘ Gebiet. Dieses Abenteuer führt zu einer geistigen Wende der Hauptfigur. Die Reise an die ‚Grenzen‘ der Welt bringt den Protagonisten dazu, seine rationale römische Perspektive aufzugeben und sich auf eine Welt des Chaos und der Ungewissheit einzulassen, die Tomis wilde Realität ausmacht. Der Römer, der an eine apollinische Rationalität der Kontrolle über Impulse, Gefühle und die ihn umgebende Welt gewöhnt ist, die durch den Lauf der Zeit unveränderlich und unvergänglich erscheint, muss die Unvermeidlichkeit des Wandels akzeptieren. Die Figuren, die er trifft, sind Teil der menschlichen Galerie, die das Werk der Metamorphosen von Ovid bildet, für den der Wandel eine dem menschlichen Wesen immanente Bedingung ist. Die Verwandlung, die sich an den Bewohnern von Tomi nachvollziehen lässt, führt zu einer Wende im Protagonisten, der nicht anders kann, als seine eigenen gnoseologischen Paradigmen in einer Perspektive zu verändern, die Verbindungen zu Nietzsches Dionysischem aufweist. Neben der persönlichen und geistigen Wende des Protagonisten passt der Roman in den Zeitgeist seines Erscheinens. Das Ende der 1980er Jahre war bekanntlich eine Zeit großer politischer Umbrüche in Mittel- und Osteuropa, und der Roman greift diese politischen Impulse auf. Schon auf den ersten Seiten des Romans wird der Gegensatz zwischen Rom und Tomi deutlich: Rom wird zwar mit Worten beschrieben, die seine kaiserliche Großartigkeit im Gegensatz zum Elend und zur Dekadenz von Tomi verherrlichen sollen, doch wird die politische Situation der Imperiumshauptstadt in düsteren Farben dargestellt. Der Kaiser Augustus und seine Nachfolger sind die absoluten Despoten des Reiches, dulden keine Widersprüche, halten sich für Träger absoluter Wahrheit und haben daher das Recht, jede Gegenstimme zu unterdrücken, auch durch Machtmissbrauch. So wird ein wahres Polizeiregime errichtet, in dem der Einzelne durch einen Kontrollapparat, der alles sieht und alles überwacht, seiner Freiheit beraubt wird. Aufgrund dieser expliziten Kritik an der Idee eines totalitären Staates erregte der Roman, der in einer politisch komplexen historischen Zeit veröffentlicht wurde, sofort Aufmerksamkeit. Im Jahr 1988, als der Roman veröffentlicht wurde, gab es in Europa noch autoritäre Regime, wie die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien, wo der Roman zensiert wurde. Bedenkt man die Zeit der Repression, die die DDR vor dem Mauerfall prägte, so zeigen die Verweise im Roman auf eine alles kontrollierende und überwachende Staatspolizei und auf Staatsflüchtige, die ihr Leben riskieren, um diesem Apparat zu entkommen, sowie die Inhaftierung politisch Andersdenkender deutliche Parallelen zur damaligen politischen Situation in der DDR. Parallelen, die Ransmayr selbst nicht geleugnet, sondern vielmehr bestätigt hat: »Wäre der Schauplatz meiner Geschichte nicht Rom, sondern Ostberlin, Hauptstadt der DDR gewesen, hätte sich an meiner Beschreibung überhaupt nichts geändert.« Der Beitrag zielt daher darauf ab, das Konzept der Wende sowohl als innere Veranlagung des Individuums, die sich auch in der Flucht vor einer totalitären Macht manifestiert, als auch als historische Perspektive bezüglich der seinerzeitigen Gegenwart zu verdeutlichen. Die Wende wird auch als Dystopie analysiert, da sowohl Rom aus politischer Sicht aufgrund der totalitären Macht dystopisch dargestellt wird, als auch Tomi aus menschlicher und sozialer Sicht, wo »der Mensch dem Menschen ein Wolf ist«.

Die individuelle und politische Wende im Roman 'Die letzte Welt' (1988) von Christoph Ransmayr / Esposito, Gianluca. - (2022). (Intervento presentato al convegno 6. Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbands (MGV) „WENDE? WENDEN!“ tenutosi a Uniwersytet Warmińsko-Mazurski w Olsztynie (Polonia) nel 22-24/09/2022).

Die individuelle und politische Wende im Roman 'Die letzte Welt' (1988) von Christoph Ransmayr

Esposito, Gianluca
2022

Abstract

Der Vortrag bezieht sich auf den 1988 erschienenen Roman 'Die letzte Welt' des österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr. Der Roman verarbeitet das historische Ereignis des Exils des lateinischen Dichters Ovid (43 v. Chr. - 17/18 n. Chr.) in Tomi (dem heutigen Constanța) aus einer postmodernen Perspektive und stellt Begriffe wie Wahrheit und Rationalität in Frage. Um seinen totgesagten Freund und Dichter im Exil zu finden und auch, um dem Druck eines repressiven Zentralstaates zu entkommen, begibt sich der Römer Cotta in dieses für die damalige Zeit und die Rom-zentrische Sichtweise ‚exotische‘ Gebiet. Dieses Abenteuer führt zu einer geistigen Wende der Hauptfigur. Die Reise an die ‚Grenzen‘ der Welt bringt den Protagonisten dazu, seine rationale römische Perspektive aufzugeben und sich auf eine Welt des Chaos und der Ungewissheit einzulassen, die Tomis wilde Realität ausmacht. Der Römer, der an eine apollinische Rationalität der Kontrolle über Impulse, Gefühle und die ihn umgebende Welt gewöhnt ist, die durch den Lauf der Zeit unveränderlich und unvergänglich erscheint, muss die Unvermeidlichkeit des Wandels akzeptieren. Die Figuren, die er trifft, sind Teil der menschlichen Galerie, die das Werk der Metamorphosen von Ovid bildet, für den der Wandel eine dem menschlichen Wesen immanente Bedingung ist. Die Verwandlung, die sich an den Bewohnern von Tomi nachvollziehen lässt, führt zu einer Wende im Protagonisten, der nicht anders kann, als seine eigenen gnoseologischen Paradigmen in einer Perspektive zu verändern, die Verbindungen zu Nietzsches Dionysischem aufweist. Neben der persönlichen und geistigen Wende des Protagonisten passt der Roman in den Zeitgeist seines Erscheinens. Das Ende der 1980er Jahre war bekanntlich eine Zeit großer politischer Umbrüche in Mittel- und Osteuropa, und der Roman greift diese politischen Impulse auf. Schon auf den ersten Seiten des Romans wird der Gegensatz zwischen Rom und Tomi deutlich: Rom wird zwar mit Worten beschrieben, die seine kaiserliche Großartigkeit im Gegensatz zum Elend und zur Dekadenz von Tomi verherrlichen sollen, doch wird die politische Situation der Imperiumshauptstadt in düsteren Farben dargestellt. Der Kaiser Augustus und seine Nachfolger sind die absoluten Despoten des Reiches, dulden keine Widersprüche, halten sich für Träger absoluter Wahrheit und haben daher das Recht, jede Gegenstimme zu unterdrücken, auch durch Machtmissbrauch. So wird ein wahres Polizeiregime errichtet, in dem der Einzelne durch einen Kontrollapparat, der alles sieht und alles überwacht, seiner Freiheit beraubt wird. Aufgrund dieser expliziten Kritik an der Idee eines totalitären Staates erregte der Roman, der in einer politisch komplexen historischen Zeit veröffentlicht wurde, sofort Aufmerksamkeit. Im Jahr 1988, als der Roman veröffentlicht wurde, gab es in Europa noch autoritäre Regime, wie die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien, wo der Roman zensiert wurde. Bedenkt man die Zeit der Repression, die die DDR vor dem Mauerfall prägte, so zeigen die Verweise im Roman auf eine alles kontrollierende und überwachende Staatspolizei und auf Staatsflüchtige, die ihr Leben riskieren, um diesem Apparat zu entkommen, sowie die Inhaftierung politisch Andersdenkender deutliche Parallelen zur damaligen politischen Situation in der DDR. Parallelen, die Ransmayr selbst nicht geleugnet, sondern vielmehr bestätigt hat: »Wäre der Schauplatz meiner Geschichte nicht Rom, sondern Ostberlin, Hauptstadt der DDR gewesen, hätte sich an meiner Beschreibung überhaupt nichts geändert.« Der Beitrag zielt daher darauf ab, das Konzept der Wende sowohl als innere Veranlagung des Individuums, die sich auch in der Flucht vor einer totalitären Macht manifestiert, als auch als historische Perspektive bezüglich der seinerzeitigen Gegenwart zu verdeutlichen. Die Wende wird auch als Dystopie analysiert, da sowohl Rom aus politischer Sicht aufgrund der totalitären Macht dystopisch dargestellt wird, als auch Tomi aus menschlicher und sozialer Sicht, wo »der Mensch dem Menschen ein Wolf ist«.
2022
Die individuelle und politische Wende im Roman 'Die letzte Welt' (1988) von Christoph Ransmayr / Esposito, Gianluca. - (2022). (Intervento presentato al convegno 6. Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbands (MGV) „WENDE? WENDEN!“ tenutosi a Uniwersytet Warmińsko-Mazurski w Olsztynie (Polonia) nel 22-24/09/2022).
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11588/962479
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