»Familiengeschichte als Jahrhundertpanorama«. So wurde der Roman von Natascha Wodin, deutsche Autorin ukrainischer Abstammung, in einer der allerersten Rezensionen beschrieben. Beim Internetsurfen auf einer russischen Website stößt eine Schriftstellerin zufällig auf eine Spur ihrer Mutter, die seit Jahrzehnten tot ist und von der sie fast nichts weiß. So beginnt eine spannende Recherche, die das unglaubliche Schicksal einer Frau und ihrer Familie nachzeichnet, die während der politischen und kriegerischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts verschollen ist: von der Oktoberrevolution bis zur Krise der postsowjetischen Länder. So füllt die große Geschichte allmählich die Lücken in ihrem Gedächtnis und führt nach der ukrainischen Stadt Mariupol, von der ihre Eltern als Zwangsarbeiter ins dritte Reich deportiert wurden: »Ich verirrte mich tief in der Weltgeschichte, in den gespenstischen Tragödien des 20. Jahrhunderts« (Sie kam aus Mariupol, S. 28) schreibt Wodin. Der Roman thematisiert die Frage der Grenzen, die Würde der Flüchtlinge und ihre Schicksale, rekonstruiert aber vor allem biografische Ereignisse, zwar einer Familie, die aber das Schicksal von Millionen von Menschen teilt: die Internierung slawischer Zwangsarbeiter. Unter den Fäden vor allem der mittel- und osteuropäischen Geschichte rekonstruiert Wodin ihren eigenen Stammbaum mit sogar neapolitanischen Vorfahren. Die Vergegenwärtigung des familiären Gedächtnisses im breiteren Kontext der ‚großen‘ Geschichte hat nämlich autobiographische Berührungspunkte, bis zu dem Punkt, dass Lucia Perrone Capano Natascha Wodin in Bezug auf dieses Buch als ‚Autorin-Erzählerin‘ definiert und damit die beiden traditionell getrennten Rollen vereint. Neben dem Thema der großen Geschichte und ihrer Beziehung zum Familiengedächtnis ist die Auseinandersetzung mit der Emigration und den anschließenden Versuchen, sich in fremde kulturelle Kontexte zu integrieren, ein sehr wichtiges Motiv. Der Roman erzählt, dass die deutschen Behörden die Zwangsarbeiter nach Kriegsende in ihr Heimatland zurückschicken wollen. Unter Stalin gelten sie jedoch als Kollaborateure. In der Ukraine wären sie als Volksfeinde ins Exil geschickt worden und könnten daher nicht zurückkehren. Und für die Deutschen waren die Menschen im Lager suspekt. Nach dem Krieg waren die Eltern der Erzählerin, die in Deutschland geblieben waren, offiziell heimatlose Ausländer. Auch in der Schule scheiterte die Integration. Obwohl die junge Erzählerin hoch motiviert ist und in kurzer Zeit Deutsch lernt, wird sie von ihren Mitschülern gemobbt; selbst die Lehrer schüren den Hass auf die ‚Russen‘ als vermeintliche Kriegsverursacher; ihre Eltern wiederum blockieren ihre Versuche, zu Hause Deutsch zu sprechen, und untergraben damit die Möglichkeit der kulturellen Selbstidentifikation der jungen Erzählerin, die sich zwischen zwei Welten befindet.

‚Große‘ Geschichte und familiäres Gedächtnis: Transnationale Kreuzungen in Sie kam aus Mariupol (2017) von Natascha Wodin / Esposito, Gianluca. - (2023). (Intervento presentato al convegno Wschód-Zachód. Dialog języków i kultur - Osten-Westen. Dialog der Sprachen und Kulturen tenutosi a Uniwersytet Pomorski w Słupsku (Polonia) nel 29-30/06/2023).

‚Große‘ Geschichte und familiäres Gedächtnis: Transnationale Kreuzungen in Sie kam aus Mariupol (2017) von Natascha Wodin

Esposito, Gianluca
2023

Abstract

»Familiengeschichte als Jahrhundertpanorama«. So wurde der Roman von Natascha Wodin, deutsche Autorin ukrainischer Abstammung, in einer der allerersten Rezensionen beschrieben. Beim Internetsurfen auf einer russischen Website stößt eine Schriftstellerin zufällig auf eine Spur ihrer Mutter, die seit Jahrzehnten tot ist und von der sie fast nichts weiß. So beginnt eine spannende Recherche, die das unglaubliche Schicksal einer Frau und ihrer Familie nachzeichnet, die während der politischen und kriegerischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts verschollen ist: von der Oktoberrevolution bis zur Krise der postsowjetischen Länder. So füllt die große Geschichte allmählich die Lücken in ihrem Gedächtnis und führt nach der ukrainischen Stadt Mariupol, von der ihre Eltern als Zwangsarbeiter ins dritte Reich deportiert wurden: »Ich verirrte mich tief in der Weltgeschichte, in den gespenstischen Tragödien des 20. Jahrhunderts« (Sie kam aus Mariupol, S. 28) schreibt Wodin. Der Roman thematisiert die Frage der Grenzen, die Würde der Flüchtlinge und ihre Schicksale, rekonstruiert aber vor allem biografische Ereignisse, zwar einer Familie, die aber das Schicksal von Millionen von Menschen teilt: die Internierung slawischer Zwangsarbeiter. Unter den Fäden vor allem der mittel- und osteuropäischen Geschichte rekonstruiert Wodin ihren eigenen Stammbaum mit sogar neapolitanischen Vorfahren. Die Vergegenwärtigung des familiären Gedächtnisses im breiteren Kontext der ‚großen‘ Geschichte hat nämlich autobiographische Berührungspunkte, bis zu dem Punkt, dass Lucia Perrone Capano Natascha Wodin in Bezug auf dieses Buch als ‚Autorin-Erzählerin‘ definiert und damit die beiden traditionell getrennten Rollen vereint. Neben dem Thema der großen Geschichte und ihrer Beziehung zum Familiengedächtnis ist die Auseinandersetzung mit der Emigration und den anschließenden Versuchen, sich in fremde kulturelle Kontexte zu integrieren, ein sehr wichtiges Motiv. Der Roman erzählt, dass die deutschen Behörden die Zwangsarbeiter nach Kriegsende in ihr Heimatland zurückschicken wollen. Unter Stalin gelten sie jedoch als Kollaborateure. In der Ukraine wären sie als Volksfeinde ins Exil geschickt worden und könnten daher nicht zurückkehren. Und für die Deutschen waren die Menschen im Lager suspekt. Nach dem Krieg waren die Eltern der Erzählerin, die in Deutschland geblieben waren, offiziell heimatlose Ausländer. Auch in der Schule scheiterte die Integration. Obwohl die junge Erzählerin hoch motiviert ist und in kurzer Zeit Deutsch lernt, wird sie von ihren Mitschülern gemobbt; selbst die Lehrer schüren den Hass auf die ‚Russen‘ als vermeintliche Kriegsverursacher; ihre Eltern wiederum blockieren ihre Versuche, zu Hause Deutsch zu sprechen, und untergraben damit die Möglichkeit der kulturellen Selbstidentifikation der jungen Erzählerin, die sich zwischen zwei Welten befindet.
2023
‚Große‘ Geschichte und familiäres Gedächtnis: Transnationale Kreuzungen in Sie kam aus Mariupol (2017) von Natascha Wodin / Esposito, Gianluca. - (2023). (Intervento presentato al convegno Wschód-Zachód. Dialog języków i kultur - Osten-Westen. Dialog der Sprachen und Kulturen tenutosi a Uniwersytet Pomorski w Słupsku (Polonia) nel 29-30/06/2023).
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11588/962538
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