Bei der Frage nach Utopien in kolonialen Gebieten als kritische und radikale Antwort auf den europäischen status quo, sollte man den Fall des Ausgestoßen, Predigers des ‚Kokovorismus‘ und Nudisten August Engelhardt (1875-1919) und vor allem auch die an ihm sich orientierenden Romane wie 'Das Paradies des August Engelhardt '(2011) von Marc Buhl oder 'Imperium' (2012) von Christian Kracht nicht außer acht lassen. Vor allem der letztgenannte Roman schildert in ironischen und oft skandalträchtigen Formulierungen den Versuch, das religiöse und sozialrevolutionäre Ideal der naturkundlichen und veganen Utopie August Engelhardts in einer ‚neuen Welt‘, nämlich auf der Insel Kabakon des wilhelminischen Neupommern (dem heutigen Neubritannien) im Bismarck-Archipel zu gestalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient die scharf ironische die Darstellung der Alterität die zwar auf Vorurteilen beruht und die üblichen kolonialen Praktiken aufweist (der Protagonist kauft, wenngleich unter einer ästhetischen Oberfläche aus Exzentrik und Individualismus verdeckt, ohne die Zustimmung der Eingeborenen Territorien und errichtet dort eine Plantage, ähnlich wie jeder deutsche, französische oder britische Kolonialist der damaligen Zeit), die aber nicht die kanonische Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘, zwischen Europäern und Eingeborenen zeigt, sondern im Gegenteil ein ironisches Dreieck entwickelt, in dem der Protagonist, der aus dem Europa der technischen Moderne geflohen ist, um seine eigene alternative Gesellschaft zu gründen, sich in eine kritische Äquidistanz zwischen den ‚rohen‘ fleischessenden Europäern und den ‚primitiven‘ Eingeborenen einordnet. Das Innovative an dieser Darstellung ist die Hybridisierung der bisher dominierenden Tendenzen der Repräsentation weißer Herrschaft und des Kolonialismus und ihrer Rückseite, nämlich des Mythos des guten Wilden und der Idealisierung des Eingeborenen. Nichtsdestotrotz erweist sich die Tätigkeit von August Engelhardt als ein echter kolonialer Akt, der auf der Asymmetrie der Macht beruht, da Engelhardt sich das Land der Eingeborenen ohne deren Zustimmung aneignet. Der Unterschied zu den anderen Kolonisatoren liegt in der Zielsetzung: Während letztere eine Repräsentation Europas in der Südsee zu schaffen suchten (man denke an die Wahl der Ortsnamen, wie z.B. Neupommern), versuchte Engelhardt hingegen eine Alternative sowohl zur europäischen als auch zur einheimischen Gesellschaft zu finden, scheiterte aber mit seiner Alternativgemeinschaft auf tragische Weise. Wenn bei Andersen die vorgestellten Gemeinschaften als Gruppen von Individuen analysiert werden, die durch gemeinsame Werte und Parameter wie Sprache, Religion, natürliche Grenzen und ein gemeinsames Epos in Opposition zu anderen Gemeinschaften mit anderen Werten eine Einheit bilden, kann eine Parallele zu Engelhardts gescheitertem Versuch gezogen werden. Engelhardt versucht, in der Südsee ein koloniales ‚Imperium‘ zu schaffen, das auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen wie dem Kokovorismus, der Sonnenanbetung und dem Veganismus basiert, die eine gesellschaftliche Alternative sowohl zum altmodischen Europa als auch zur Eingeborenenwelt darstellen sollen. In diesem Zusammenhang zielt mein Beitrag auch darauf ab, die ungewöhnliche Perspektive der Darstellung des ‚deutschen Wesens‘ herauszuarbeiten. In der ironischen Triangulation vermisst der in die Epoche kolonialer Größe des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesiedelte Roman nicht nur eine ungewöhnliche Darstellung Deutschlands vor der Katastrophe der beiden Weltkriege, sondern versucht zugleich, die überkommenen kolonialen wie schematisch postkolonialen Denkkonstellationen in Frage zu stellen.

Utopie und Kolonialismus in der Südsee: Das gescheiterte Experiment einer alternativen sozialen und religiösen Gemeinschaft in Christian Krachts Roman 'Imperium' (2012) / Esposito, Gianluca. - (2022). (Intervento presentato al convegno Utopie und (Post-)Kolonialismus. Imaginäre Gemeinschaften in europäischen Krisendiskursen tenutosi a Universität Bremen nel 13-14/10/2022).

Utopie und Kolonialismus in der Südsee: Das gescheiterte Experiment einer alternativen sozialen und religiösen Gemeinschaft in Christian Krachts Roman 'Imperium' (2012)

Esposito, Gianluca
2022

Abstract

Bei der Frage nach Utopien in kolonialen Gebieten als kritische und radikale Antwort auf den europäischen status quo, sollte man den Fall des Ausgestoßen, Predigers des ‚Kokovorismus‘ und Nudisten August Engelhardt (1875-1919) und vor allem auch die an ihm sich orientierenden Romane wie 'Das Paradies des August Engelhardt '(2011) von Marc Buhl oder 'Imperium' (2012) von Christian Kracht nicht außer acht lassen. Vor allem der letztgenannte Roman schildert in ironischen und oft skandalträchtigen Formulierungen den Versuch, das religiöse und sozialrevolutionäre Ideal der naturkundlichen und veganen Utopie August Engelhardts in einer ‚neuen Welt‘, nämlich auf der Insel Kabakon des wilhelminischen Neupommern (dem heutigen Neubritannien) im Bismarck-Archipel zu gestalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient die scharf ironische die Darstellung der Alterität die zwar auf Vorurteilen beruht und die üblichen kolonialen Praktiken aufweist (der Protagonist kauft, wenngleich unter einer ästhetischen Oberfläche aus Exzentrik und Individualismus verdeckt, ohne die Zustimmung der Eingeborenen Territorien und errichtet dort eine Plantage, ähnlich wie jeder deutsche, französische oder britische Kolonialist der damaligen Zeit), die aber nicht die kanonische Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘, zwischen Europäern und Eingeborenen zeigt, sondern im Gegenteil ein ironisches Dreieck entwickelt, in dem der Protagonist, der aus dem Europa der technischen Moderne geflohen ist, um seine eigene alternative Gesellschaft zu gründen, sich in eine kritische Äquidistanz zwischen den ‚rohen‘ fleischessenden Europäern und den ‚primitiven‘ Eingeborenen einordnet. Das Innovative an dieser Darstellung ist die Hybridisierung der bisher dominierenden Tendenzen der Repräsentation weißer Herrschaft und des Kolonialismus und ihrer Rückseite, nämlich des Mythos des guten Wilden und der Idealisierung des Eingeborenen. Nichtsdestotrotz erweist sich die Tätigkeit von August Engelhardt als ein echter kolonialer Akt, der auf der Asymmetrie der Macht beruht, da Engelhardt sich das Land der Eingeborenen ohne deren Zustimmung aneignet. Der Unterschied zu den anderen Kolonisatoren liegt in der Zielsetzung: Während letztere eine Repräsentation Europas in der Südsee zu schaffen suchten (man denke an die Wahl der Ortsnamen, wie z.B. Neupommern), versuchte Engelhardt hingegen eine Alternative sowohl zur europäischen als auch zur einheimischen Gesellschaft zu finden, scheiterte aber mit seiner Alternativgemeinschaft auf tragische Weise. Wenn bei Andersen die vorgestellten Gemeinschaften als Gruppen von Individuen analysiert werden, die durch gemeinsame Werte und Parameter wie Sprache, Religion, natürliche Grenzen und ein gemeinsames Epos in Opposition zu anderen Gemeinschaften mit anderen Werten eine Einheit bilden, kann eine Parallele zu Engelhardts gescheitertem Versuch gezogen werden. Engelhardt versucht, in der Südsee ein koloniales ‚Imperium‘ zu schaffen, das auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen wie dem Kokovorismus, der Sonnenanbetung und dem Veganismus basiert, die eine gesellschaftliche Alternative sowohl zum altmodischen Europa als auch zur Eingeborenenwelt darstellen sollen. In diesem Zusammenhang zielt mein Beitrag auch darauf ab, die ungewöhnliche Perspektive der Darstellung des ‚deutschen Wesens‘ herauszuarbeiten. In der ironischen Triangulation vermisst der in die Epoche kolonialer Größe des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesiedelte Roman nicht nur eine ungewöhnliche Darstellung Deutschlands vor der Katastrophe der beiden Weltkriege, sondern versucht zugleich, die überkommenen kolonialen wie schematisch postkolonialen Denkkonstellationen in Frage zu stellen.
2022
Utopie und Kolonialismus in der Südsee: Das gescheiterte Experiment einer alternativen sozialen und religiösen Gemeinschaft in Christian Krachts Roman 'Imperium' (2012) / Esposito, Gianluca. - (2022). (Intervento presentato al convegno Utopie und (Post-)Kolonialismus. Imaginäre Gemeinschaften in europäischen Krisendiskursen tenutosi a Universität Bremen nel 13-14/10/2022).
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11588/962481
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